Alle Jahre wieder steht das familiäre Weihnachtsfest an. Wir treffen wieder auf Geschwister, Eltern und Großeltern, und wer sonst noch so zu unserer Familie gehört.
Nach den ersten Momenten des Willkommens folgt der Austausch von Neuigkeiten. Die jüngste Schwester hat sich nur kurz zuvor mit ihrem Freund verlobt. Die Ältere erwartet ihr drittes Kind.
Und der Bruder? Der, als einziger Junge in der Geschwisterreihe, lebt allein, ohne Frau oder Mann und auch ohne Kinder. Er hat wenig zu erzählen. Er versucht es immerhin und lachend erzählt er, dass er nur noch einen Stempel brauch, dann sei sein Dönerkärtchen voll und er bekomme einen Döner umsonst.
Nach einer kurzen unheilvollen Pause, prasseln Fragen über Fragen von den anderen auf ihn herein: Wie sieht es eigentlich bei Dir mit einer Partnerschaft aus? Willst Du überhaupt eine Beziehung? Möchtest Du denn keine Kinder? Warum bist Du eigentlich beruflich immer noch nicht weiter gekommen? Der genervte Bruder hat keine Antworten und will sie auch garnicht haben. Sein Leben gefällt ihm nämlich genau so, wie es ist! Und die Schwestern reden und reden, sprechen über ihre Erlebnisse und Erfahrungen.
Daraufhin beginnen die Großeltern in der Küche das Festessen vorzubereiten. Die Schwestern spielen mit den Kindern. Die Schwager unterhalten sich.
Das einzige was dem Bruder einfällt, ist der Vorschlag eines Spazierganges vor dem Essen, den alle aufgrund ihrer Beschäftigung ausschlagen. Und so geht der Bruder allein.
“Das ist wieder mal typisch. Kann er nicht mithelfen oder sich mit den Kindern beschäftigten oder sonst wie nützlich sein?”, denkst Du, wie auch die anderen Familienmitglieder?
Ja und Nein.
Es gibt nicht DEN Single-Typ, weshalb sich die Frage nicht pauschal beantworten lässt. Die meisten Alleinlebenden sind es aber gewohnt, ein Leben in relativer Einsamkeit zu führen. Sie haben ihre Ruhe, wann immer sie diese wollen und brauchen. Aktivitäten können sie eigenständig planen und/oder absagen. Eine Familiensituation, wie das Zusammentreffen zu Weihnachten mit vielen unterschiedlichen Personen und mit mehreren Kindern überfordert
Singles oft. Sie brauchen Zeit und Freiraum, den Input, den ihnen die Familie innerhalb kürzester Zeit bietet, zu verarbeiten. Einen solchen Informationsfluss sind sie absolut nicht mehr gewöhnt.
Auf der anderen Seite fällt es ihnen gleichzeitig schwer sich aus ähnlichen Gründen zu Beginn in die Familie einzugliedern. Die Geschwister und Eltern sind vielmals mit den Jüngsten der Familien oder mit den edlen Delikatessen in der Küche beschäftigt, sodass es kaum möglich ist, ein intimes Gespräch zu führen und für die Themen einer frisch Verlobten oder mehrfachen Mutter haben Alleinlebende kein Einfühlungsvermögen. Nimm es mit Gelassenheit. Sie konnten auf solchen Gebieten noch keine Erfahrungen sammeln und haben oft ganz andere Lebensinhalte
und daher ganz andere Interessen.
Mit Kindern umzugehen, ist auch nicht jedem Single gegeben. Die Kinder verstehen oft den ironischen Unterhaltungston des Alleinlebenden nicht. Und dieser kennt sich mit kindgerechtem Spielen nicht aus. Sieh es ihm nach. Vor allem, wenn der Single eurer Familie außerhalb der eigenen, keine weiteren Familienkontakte geknüpft hat. Er konnte daher noch kein Gespür entwickeln, wann, wie und wo in einer Familie mit anzupacken ist.
Er ist ein selbstbestimmtes Leben gewöhnt. Plötzliche Kompromisse zu schliessen, hat er nie üben müssen. Wenn er Hunger hat, isst er etwas, wenn er müde ist, geht er schlafen und wenn er Lust hat, spazieren zu gehen, geht er eben spazieren.
Familientreffen fordern Singles besonders in dieser Hinsicht heraus. Viele Gedanken, Gefühle, Vorstellungen und Gewohnheiten, die zusammengebracht werden müssen und werden, treffen aufeinander. Völlig entgegen der eigenen Gewohnheiten
eines Alleinlebenden. Aber nicht nur deshalb verschwinden Singles am Weihnachtsfest gern mal auf einen alleinigen Spaziergang nach draußen oder nach dem Abendessen allein in ein Hotelzimmer.
Sie brauchen diesen Freiraum als Rückzugsmöglichkeit, um neue Energie zu tanken. Ohne diese Möglichkeiten würden sich Alleinlebende schnell in die Enge getrieben und überfordert fühlen. Jedes Familienfest, wie auch das alljährliche Weihnachtsfest würde so zu einer Ansammlung von Stress für Singles werden.
Nun magst Du vielleicht denken: Wieso Stress? Wenn hier jemand Stress hat, dann wohl die Mutter, für alle kochend in der Küche stehend oder Du selbst mit der Abstimmung des eigenen Partners oder sogar mit der Fürsorge der eigenen Kinder! Nur Dasein kann ja wohl keinen Stress bedeuten. Aber in Deiner Position hast Du vielleicht schon gelernt mit solchen Herausforderungen umzugehen. Der alleinlebende Bruder aber definitiv noch nicht in dem Ausmaß.
Gewohnheit ist das Schlüsselwort!
Besonders für Singles in kontaktreichen Situationen, wie bei Familienfesten. Alleinlebende packen nicht mit an oder übernehmen nicht mal zeitweise die Betreuung eines Kindes, weil sie Dich ärgern wollen. Es fällt ihnen vielleicht einfach schwerer sich in solchen Situationen ein- und zurecht zu finden. Sie sind inflexibler als Personen mit Kindern und brauchen ihre Zeit sich von einem selbstbestimmten Leben in eine chaotische, personenreiche Familiensituation einzufinden. Jegliche Herausforderungen beim Weihnachtsfest bedeuten für Singles immer die eigene Komfortzone zu verlassen. Und mal ehrlich - wer will schon gerne die eigene Komfortzone verlassen? Das kostet immer Mut und Überwindung.
Es ist also ratsam, den Singles unserer Familien Geduld und Toleranz entgegen zu bringen. Sie stehen an einem anderen Punkt in ihrem Leben. Zeig’ ihnen, dass Du Dich auf sie gefreut hast und nimm sie an, wie sie nun mal sind. Es ist schließlich keiner besser oder schlechter als die anderen, sondern einfach nur anders. Lass sie an Deinen Erfahrungen im Beziehungs- und Familienalltag teilhaben.
Bist Du selbst der Single der Familie, dann scheue Dich nicht davor nachzufragen, wo du wann wie mit anpacken kannst. Denn sicherlich möchtest Du gern helfen, auch wenn nicht immer erkennbar ist, wann sich ein Familienmitglied Hilfe wünscht. Weihnachten ist ja schließlich ein Fest der Liebe, oder?
Und vergiss bei all den Dir merkwürdig erscheinenden Reaktionen nicht - hinter allem steckt ein Muster!