1. Du kannst Dich z.B. mit Deinem Lieblingsmärchen zurückziehen und es Dir selbst laut vorlesen. Schau, an welchen Stellen Du vielleicht emotional wirst bzw. was für innere Bilder in Dir aufsteigen.
2. Nimm Dir Dein Märchen zur Hand und schreibe Dir ohne Wertung und ohne schon analysieren zu wollen (was unser Verstand natürlich sofort möchte :-)) einfach erst einmal die vorhandenen Märchensymbole heraus (z.B. Wald, Hexe, Esel, Wolf, rote Kappe, Brunnen, Wasser, Brot, Äpfel). Was verbindest Du mit diesen Symbolen? Was be-deuten sie für Dich? Schau auch gern, was die allgemeine Deutung dazu sagt und ob es mit Dir in Resonanz geht. Der Wald steht z.B. für den un-bewussten Teil unserer Persönlichkeit, hier liegen verdrängte Wahrheiten und Verstrickungen in unseren Familiensystemen.
3. Was könnte nun dieses Märchen mit Dir, Deiner Biografie oder Deinem Familiensystem zu tun haben? Wie immer lohnt ein Blick auf die Anfangssignatur, in diesem Fall auf die ersten Sätze des Märchens. Welche Aussagekraft steht dahinter?
Hier wird ein Frauenhaushalt beschrieben, in dem es durch die Benennung der Mutter als Witwe, um innere Einsamkeit geht. Die Tochter ist ihr wichtigster seelischer Bezug und sie versucht alles, diese Tochter an sich zu binden, was dieser den Weg in ein eigenes Leben erschwert. Hier zeigt uns der Einstieg schon an, dass es sich um eine Partnerübertragungskonstellation handelt. Diese Konstellation ist die Voraussetzung für den beschriebenen seelischen Konflikt in diesem Märchen. Die fortlaufende Handlung zeigt uns nun auf, welche zwei Optionen die Tochter der Witwe für ihre eigene Lebensgestaltung hat.
In diesen ersten drei Sätzen erscheint vor unserem inneren Auge ein Männerhaushalt in dem Not herrscht. Der Schneider kann seine Söhne allein nicht ernähren, wäre da nicht die Ziege, die einzig weibliche Gestalt des Märchens.
Der Schneider glaubt im Fortgang der Geschichte der Ziege mehr als den Söhnen und jagt sie einen nach dem anderen aus dem Haus. In dieser Familienkonstellation müssen sich Männer sehr anstrengen, um es der ZIEGE bzw. im übertragenen Sinne den Frauen recht zu machen. Doch egal was sie tun, es wird nicht honoriert. In dieser Familie sagt die Frau den Kindern immer wieder: „Was vom Vater kommt ist nichts Gutes.“
Die Bedeutung der beiden Märchen bezogen auf die Geschichte von Franziska und Frank:
So wie in Franziskas Märchen das Männliche kaum bis gar keine Rolle spielt, so zeigt sich in Franks Märchen das Weibliche eher von der unangenehmen Seite, als ewig meckernde und nicht zufriedenstellende Ziege. Bei beiden spielt das andere Geschlecht entweder fast gar keine Rolle, weshalb Franziska der Trennungsgedanke auch nicht fremd war, oder eine unangenehme, weshalb sich Frank weitestgehend aus dem Familienalltag heraus hielt.
In beiden Märchen findet am Ende der Geschichte auch keine Verpaartnerung statt. Beide kommen wieder in die Herkunftsfamilien zurück. So kehren die Töchter der Witwe als Pech- und Goldmarie zu ihrer Mutter zurück und die drei Söhne zu ihrem Vater. Keiner der fortgegangenen oder fortgeschickten Kinder gründet eine eigene neue Familie.
Franziska hat bereits einen langen Individuationsweg hinter sich, war mal die Goldmarie und hat Liebe über Leistung bei ihrer Mutter erkämpfen wollen und mal die Pechmarie, indem sie ihrer Mutter in ihrer eigenen Familie zu viel Platz einräumte. In jedem Fall war der Partner an ihrer Seite ihre Mutter, weshalb Frank keine Chance bisher hatte, seinen Platz an ihrer Seite und in der gemeinsamen Gegenwartsfamilie einzunehmen. Er wurde immer wieder verdrängt. Eine Konstellation, die er aus seiner Herkunftsfamilie gut kannte, wo die Mutter so einen großen Raum beim Vater einnahm, dass er mit 11 Jahren sehr früh sein Elternhaus Richtung Internat verließ. Wie auch die drei Söhne von ihrem Vater wurde Frank von seinen Eltern weggeschickt.
Über die Arbeit mit ihren Märchen wurden dem Paar Franziska und Frank die eigenen Familienmuster bewusst und der Weg wurde freigegeben, sich als Paar neu zu begegnen und aufzustellen.
Der Blick auf die eigene Familiengeschichte über das Lieblingsmärchen aus der Kindheit lohnt sich, denn Kinder mögen nur die Geschichten, die mit ihnen zu tun haben und was mit ihnen zu tun hat, erspüren sie genau.
Und wenn Du kein Lieblingsmärchen hattest oder erinnerst?
Dann starte folgenden Versuch und beschreibe Deine Kindheit und Jugend doch mal als Märchen, z.B. „Es war einmal ein junger Prinz/eine junge Prinzessin...“ und beschreibe die Situation aus der Du kommst und wie Du die vielen Herausforderungen gemeistert hast.
Vielleicht hat Deine Geschichte ja Ähnlichkeit mit einem Märchen. Vielleicht steht sie aber auch für sich!
Und: Wenn Du trotz „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“ feststeckst und Unterstützung brauchst, dann schreibe mir oder ruf mich an! Ich begleite Dich gern!
Literatur zum Thema:
Kast, V. (2000): Familienkonflikte im Märchen. Eine psychologische Deutung. München: dtv Verlagsgesellschaften.
Koeppe, K. (2014): Märchenstunde für Erwachsene. Was die Grimm’schen Märchen uns wirklich erzählen. Leipzig.
Schaefer, T. (2008): Wenn Dornröschen nicht mehr aufwacht. Die Botschaft der Märchen in Familienaufstellungen. München: Knaur Verlag.
Schneider, J. R. & Gross, B. (2010): Ach wie gut, dass ich es weiß. Märchen und andere Geschichten in der systemisch-phänomenologischen Therapie. Heidelberg: Carl-Auer Verlag.