...innerhalb meines Vokabulars, wo ich immer mehr verräterische Indizien fand und...außerhalb meiner eigenen Wahrnehmung, wo ich durch den 1. Kriegsenkelkongress auf die Sprachwissenschaftlerin Mechthild von Scheurl-Defersdorf und neben ihrem Interview auch auf ihren schriftlichen Beitrag für den Kongress stieß.
„Wir haben seit über 70 Jahren Frieden. Und so möge es auch weiterhin bleiben. Doch tragen die Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration noch immer an den Nachwirkungen der beiden Weltkriege - ohne den Zusammenhang zwischen ihren individuellen Schwierigkeiten einerseits und den Kriegserfahrungen ihrer Großeltern und Urgroßeltern andererseits zu ahnen. Die alten Wunden und Traumata wirken weiter, bis wir sie erkennen und bei uns selbst heilen lassen können.
Die Kriegserfahrungen finden ihren Widerhall in der individuellen Ausdrucksweise - im Wortschatz, im Satzbau und in der Grammatik. Kinder und Enkel übernehmen mit der Sprache ihrer Eltern und Großeltern deren Muster und Prägungen. Ihnen ist ihre Sprache in keiner Weise bewusst. Doch erhalten sie die alten Dramen auf diese Weise aufrecht, ohne dies zu erkennen und zu wollen. Der bewusste Umgang mit der eigenen Sprache trägt erheblich dazu bei, das Schicksal der Großeltern und Urgroßeltern als deren Schicksal zu achten - und selbst frei zu werden und ein glückliches Leben zu führen.“
In diesem Moment war ich sprachlos. Denn zur selben Zeit bekam ich Post von der „Deutschen Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht“, denen ich ein halbes Jahr zuvor eine Anfrage zu meinem Großvater väterlicherseits gestellt hatte. Neben anderen für mich neuen Informationen stand dort, gefallen: Kopfschuss.
Sätze wie: „Ich krieg die Motten.“, „Kopfschuss, beide Beine weg.“, „Na dann, schieß los.“, „Da kann ich mir ja gleich die Kugel geben.“, „Hast du 'nen Schuss?“ oder „Lass uns das in Angriff nehmen.“ waren für mich bis dato vertraut und völlig „normal“. Das ich quasi aufgeweckten Zuhörern damit schon meine eigene Familiengeschichte erzähle, war mir natürlich nicht bewusst.
Frau Scheurl-Defersdorf schreibt dazu:
„Die einzelnen Schicksale finden sich in der Sprache wieder. So war es auch bei einer Frau Anfang vierzig. Sie sagte, sie ertrinke in Arbeit. Das Ertrinken war in ihrer Familie ein großes Thema: Der Onkel konnte als Kind vom flachen Land ohne jeden See weit und breit nicht schwimmen. Darum ertrank er beim Rückzug des deutschen Heeres in einem Fluss. Die Nichte lebte das Thema nach - indem sie in Arbeit ertrinkt. Ein anderer Seminarteilnehmer sagte mir: „Ich ersticke wieder einmal in Arbeit. [...]“
Kriegserlebnisse sind bei genauem Hinhören allüberall in der Sprache zu finden. Dazu gehört auch die Not, die allgegenwärtig war, auch noch in den Jahren nach dem Krieg. Es gibt Aberhunderte von Sätzen, in denen die Wörter „nötig, benötigen, notfalls, in der Not“ vorkommen. Sie leiten sich alle von dem Wort „Not“ ab. Dabei ist es leicht, dafür sprachliche Alternativen zu finden. Aus „notfalls“ wird dann beispielsweise „bei Bedarf“.
Wer jedoch mit dem Muster „Not“ groß geworden ist, findet kaum Anregung von außen, sprachliche Alternativen. Er ist in dem Muster gefangen. Daher erlebt er immer wieder aufs Neue in seinem Leben Not und Bedrängnis. Mit seiner Ausdrucksweise hält er dieses Muster aufrecht und gibt es ahnungslos an die nächste Generation weiter.“
Mir wurde daraufhin bewusst, dass es eine Sprache gibt, die positiv ausgerichtet ist, die mich kraftvoller macht und mir gut tut. Und es gibt einen Sprachgebrauch, der mir Energie nimmt, mich runterzieht und mich negativ beeinflußt. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass Sprache nicht einfach aus uns herauspurzelt, sondern einerseits uns schon eine Geschichte über uns erzählt und andererseits unser zukünftiges Leben beeinflußt. Denn nach dem Gesetz der Resonanz erhalte ich was ich aussende. Mit einer unbewusst kriegerischen Sprache gebe ich mich kämpferisch , obwohl ich doch ein friedliches Leben kreieren möchte.
Was können wir nun tun, um aus diesem Teufelskreis auszusteigen?
Die gute Nachricht ist, wir können etwas tun! Vor gar nicht allzu langer Zeit haben Neurowissenschaftler, wie Dr. Gerald Hüther herausgefunden, dass wir Menschen uns in jedem Alter weiterentwickeln und lernen können, so wir es mit Begeisterung tun.
Wir können uns also Satz für Satz und Wort für Wort von den alten Mustern unserer Sprache befreien, indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken und solange wir spielerisch damit umgehen. Die neuronalen Vernetzungen im Gehirn brauchen eine Weile, um von alten liebgewordenen Wörtern loszulassen und neue zu integrieren.
Frau Scheurl-Defersdorf gibt folgenden Tipp: „Als erstes gilt es, ein Gefühl für die Wirkung der Sprache zu entwickeln."
Jedes Wort hat eine Wirkung - und schafft Wirklichkeit. Jedes Wort wirkt!
Ich lade Dich zu einer Übung ein. Ich nenne Dir zwei Sätze. Lies jeden einzelen Satz bitte zweimal laut. Lass die Sätze auf Dich wirken: „Ich muss die Küche aufräumen. - Ich muss die Küche aufräumen.“ Nun lies bitte diesen Satz: „Ich räume die Küche auf. - Ich räume die Küche auf.“
Wie fühlt es sich für Dich an? Welche Wirkung haben die verschiedenen Formulierung auf Dich?
Der Unterschied liegt im Gebrauch des Wortes „muss“. Die Kriegsgeneration „musste“ immerfort - sie mussten fliehen, sie mussten sich in Sicherheit bringen, sie mussten etwas zu essen beschaffen usw. wir haben diesen Sprachgebrauch beibehalten, auch nach dem Ende des Krieges. Das „müssen“ war ein Überlebensmuster geworden. Die Kinder sind damit groß geworden. Auch die nächste Generation ist dann mit diesem Sprachmuster groß geworden - und gibt die Prägung weiter, bis jemand in seiner eigenen Sprache die Muster erkennt und wandelt.
Neben dem kleinen Wörtchen „muss“, finden wir auch das kleine Wort „schnell“ überall. „Ich muss nur noch schnell den Absatz beenden“, statt „Ich beende noch den Absatz und dann komme ich“. Und so kannst du gern ein bisschen in deiner Alltagssprache kramen und schauen, was da so aus dem Unbewussten plötzlich in das Bewusste drängt. Vielleicht Sätze wie: „Das ist ja heute ein Bombenwetter“ oder „Mach mal langsam, wir sind doch nicht auf der Flucht“ oder „Na, der Schuss ging ja wohl nach hinten los.“
Mit diesem Blogbeitrag möchte ich lediglich den Fokus auf die Faszination der Sprache legen und wie wir auch mit diesem kleinen Puzzleteil neben vielen anderen, wie wir Denken, wie wir Fühlen, uns eine neue Wirklichkeit erschaffen können, erst für uns selbst, dann in den Familien und nicht zuletzt für alle um uns herum, die Gesellschaft in der wir leben.
Sollte jetzt Dein Interesse geweckt sein und Du möchtest tiefer in die Materie einsteigen, dann schau Dir doch gerne folgende Bücher oder auch das Interview von Mechthild von Scheurl-Defersdorf mit Götz Wittneben an:
Bücher:
Scheurl-Defersdorf, M. R. (2008). In der Sprache liegt die Kraft. Klar reden, besser leben. München: Herder Verlag.
Martel, J. (2021). Die Kraft der Worte. Wie die richtige Wortwahl uns befreit, stärkt und heilt. Rottenburg am Neckar: Kopp-Verlag.
Mechthild von Scheurl-Defersdorf im Interview mit Götz Wittneben:
Und: Solltest Du gerne auf die Hintergrundgeschichten Deiner Familie und den Ursprung Deiner Formulierungen schauen wollen, dann schreib mir oder ruf mich an. Ich begleite Dich gern!