Frau O. (73) sitzt mir mit Tränen in den Augen gegenüber. Es fällt ihr schwer, über den Kontaktabbruch ihrer Tochter einer Dritten gegenüber zu sprechen. Zu tief sitzt der Schmerz. „Sie war so ein liebes Kind und wir waren uns, als sie klein war, so nah. Ich versteh das einfach nicht.“ Und immer wieder taucht zwischen ihren Sätzen die Frage nach dem WARUM auf. Warum? Sie hatte doch alles, was ein Kind sich wünschen kann. Eine wunderschöne Kindheit in einem intakten Elternhaus im Grünen, und jedes Jahr eine wunderschöne Reise im Sommer und im Winter. Seit 6 Jahren herrscht nun schon eisiges Schweigen. „Ich verstehe es einfach nicht. Was habe ich denn falsch gemacht? Soll ich ihr schreiben oder einfach vorbeigehen? Was kann ich tun?“ sprudelt es aus Frau O. heraus.
„Die betroffene Mutter wird immer sagen: „Ich habe doch mein Bestes getan!“ - und das ist für sie auch absolut stimmig. […] -ja, die Wahrheit ist, es war das Beste, was die Mutter geben konnte, und etwas anderes war ihr, zumindest als junger Mutter, nicht möglich.“ (Claudia Haarmann)
Herr Z. (28) atmet erst einmal tief durch, bevor er mit seinem Anliegen herausrückt. “Es geht um meine Eltern. Ich halte unsere Zusammenkünfte einfach nicht mehr aus und überlege, ob ich den Kontakt zu ihnen ganz abbrechen soll. Ich glaube, dass wäre für beide Seiten das Beste. Auf Nachfrage meinerseits antwortete er, dass er gar nicht wüsste, wie er es mir erklären solle. Er habe das Gefühl, er würde von den Wünschen und Erwartungen seiner Eltern aufgesaugt. „Meine Eltern lieben mich und würden alles für mich tun, aber immer wenn ich bei ihnen bin, fühle ich mich wie ein Kleinkind und mir fehlt die Luft zum atmen.“
„Für die Tochter, die den Kontakt nicht mehr aushalten kann, ist etwas anderes wahr, sie drückt aus: „Ich habe nicht bekommen, was für mich das Beste gewesen wäre [, auch wenn sie das Beste gegeben hat, was sie geben konnte]!“ Und im Nachsatz steht: „Leider ist meine Mutter nicht bereit das anzuerkennen.““(Claudia Haarmann)
An diesem Punkt fällt auf, dass es zweierlei Art von Gründen für einen Kontaktabbruch gibt.
Einerseits wenden sich erwachsen gewordene Kinder aus dysfunktionalen Beziehungen von ihrem Elternhaus ab, in dem sie u.U. unter verbaler oder physischer Gewalt gelitten haben. Kinder, die zu wenig Liebe erfahren haben.
Andererseits brechen mittlerweile auch Kinder aus funktionalen Elternhäusern den Kontakt ab, um nicht an „zu viel Liebe“ zu ersticken.
Zwei Seiten ein und derselben Medaille. Was fehlt, ist die gesunde Mitte.
Wer mit Eltern groß wurde, die z.B. auf Grund von Kriegstraumata kaum Liebe geben konnten, wollte es vielleicht bei seinen Kindern besser machen und überschüttete diese mit Liebe und Aufmerksamkeit aus der eigenen Sehnsucht nach Bindung heraus. Diese Kinder hatten wirklich alles was sie sich nur wünschen konnten, nur eines nicht: Autonomie, Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstverantwortung müssen hart errungen werden. Wenn nötig auch, indem sie sich dem engen Kontakt durch einen Kontaktabbruch entziehen.
Weshalb ist dieses (Tabu-) Thema so aktuell in unserer heutigen Zeit?
Ob dieser Abbruch in einer Familie ganz frisch stattfindet oder ob er schon seit mehreren Generationen als Familienmuster weitergegeben wird, ist von Familie zu Familie ganz verschieden. Wichtig dabei ist zu erkennen, dass Geheimnisse und Tabus, Themen, über die nicht geredet und die unter dem Teppich in den Familien gehalten werden, nicht dort verschwinden, sondern innerhalb der Familie weiterwabern, bis es jemanden in der Familie gibt, der sich des Themas annimmt und es an die Oberfläche holt.
Ich denke die Trennung, die wir gerade im Außen erleben, ist nur ein Spiegelbild dessen, was sich in unseren Familien schon seit Jahrzehnten und Jahrhunderten im Inneren abspielt.
Ich möchte betonen, dass es bei einem Kontaktabbruch nicht um Schuldzuweisungen und damit auch nicht um eine Täter-Opfer-Spirale geht. Beide Seiten leiden unter der Kontaktlosigkeit.
Doch was tun?
1. Wahrnehmen, was ist.
2. Annehmen der Situation als Realität: Ja, so ist es! (der Bruch hat so oder so bereits stattgefunden).
3. Annehmen der eigenen Gefühle, die diese Situation in mir auslöst. Woher kenne ich diese Gefühle?
4. Annahme dessen, dass auch ich einen Anteil an der Situation trage.
5. Hinterfragen der eigenen Familiengeschichte, sowie der Familienmuster mütterlicher- und väterlicherseits.
6. Verantwortung übernehmen für mich und meine eigene Biografie.
Fragen, die Du Dir als Elternteil stellen kannst:
1. Wann hat das Auseinandertriften deiner Erinnerung nach begonnen? Was fand zu diesem Zeitpunkt familiengeschichtlich statt?
2. Wozu ist der Kontaktabbruch gut? Was will er mir sagen? Was wird dadurch sichtbar?
3. Was brauche ich, was mir dieser Konflikt aufzeigt?
4. Wie erging es dir mit deiner Mutter, mit deinem Vater?
5. Wie und worüber wurde / wird in deiner Herkunftsfamilie / Familie kommuniziert?
Fragen, die Du Dir als „Kind“ stellen kannst:
1. Kenne ich meine Familiengeschichte?
2. Was haben meine Eltern erlebt, bevor ich geboren wurde?
3. Gibt es rote Fäden, immer wiederkehrende Muster in meinem Familiensystem?
4. Was hatten meine Eltern für Eltern, in was für einem Familienklima wurden sie groß?
5. Was hat sie so werden lassen, wie sie heute sind?
6. Warum ist es für sie so schwer, das ich mich abnabele?
7. Was brauche ich, was sich mir durch diesen Konflikt zeigt?
Und: Wenn Du Unterstützung brauchst, dann schreibe mir oder ruf mich an!
Bücher zum Thema:
Haarmann, Claudia (2020). Kontaktabbruch in Familien: Wenn ein gemeinsames leben nicht mehr möglich scheint. München: Kösel-Verlag
Soliman, Tina (2011). Funkstille: Wenn Menschen den Kontakt abbrechen. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag
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